Israel zieht die rote Linie in Syrien
Israel macht Ernst mit seiner Drohung gegen die neuen Machthaber in Syrien. „Wenn das Regime den Drusen schadet, werden wir ihm schaden“, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor einigen Wochen. Nun ist der Ernstfall eingetreten. Südlich von Damaskus bekriegen sich bewaffnete Drusen und regierungstreue Kämpfer – und Israel greift ein.
In mehreren Orten kam es zur Gewalt. Der staatlichen Nachrichtenagentur Sana zufolge starben mindestens elf Menschen bei Kämpfen im Vorort Sahnaja der syrischen Hauptstadt Damaskus. Sicherheitskräfte sollen unter schwerem Beschuss vorgerückt sein. In der nahe gelegenen Stadt Jaramana wurden nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit Montagabend mindestens 17 Menschen getötet. Die Opferzahl könnte weiter steigen.
Die israelische Reaktion folgte unmittelbar. Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz gaben in einer Erklärung bekannt, dass die Armee eine „Warnoperation“ durchgeführt habe. Dabei wurde offenbar ein Mitglied der syrischen Sicherheitskräfte getötet. Kampfjets sollen in niedriger Höhe über Damaskus fliegen. Die IDF gab bekannt, sie sei gegen Personen vorgegangen, „die drusische Zivilisten angegriffen hatten“. Der Generalstabschef habe angewiesen, „einen Angriff auf Ziele des syrischen Regimes vorzubereiten, sollten die Gewalttaten gegen drusische Gemeinden anhalten“, heißt es weiter.
Seit islamistische Milizen im Dezember den langjährigen Diktator Baschar al-Assad gestürzt haben, erwehren sich die Drusen der neuen Herrschaft. Sie wollen sich Präsident Ahmed al-Sharaa und seinen Leuten nicht unterwerfen, denn sie fürchten um ihre Rechte und um ihre Sicherheit. Im Süden von Damaskus haben drusische Milizen das Sagen. Und können sich dabei auf eine gewaltige Schutzmacht verlassen: Israel.
Der jüdische Staat hat mehrere Gründe, die Drusen zu unterstützen. Erstens: Die religiöse Minderheit ist nicht nur in Syrien angesiedelt, sondern auch in Israel – und die dortige Community macht Druck auf die israelische Politik. Nach den jüngsten Vorfällen demonstrierten Drusen im Norden Israels und blockierten eine Autobahn. Der geistliche Führer der drusischen Gemeinschaft in Israel, Scheich Muafak Tarif, erklärte, jeder Angriff – und sei er noch so klein – werde ernste Folgen nach sich ziehen. In Syrien stehe ein Wandel unmittelbar bevor, sagte er, ohne dies genauer zu erklären.
Doch Israels Engagement hat nicht nur innenpolitische Gründe. Denn zweitens will Israels Regierung ein dezentral organisiertes Syrien mit einer schwachen Führung, die man leicht in Schach halten kann. Sie traut der neuen syrischen Regierung nicht über den Weg und sieht die eigene Sicherheit bedroht.
Die israelische Analystin Sarit Zehavi sagt, al-Sharaa zeige „keinerlei Anzeichen dafür, dass er seine Ideologie grundlegend geändert hat“. Der syrische Präsident gehörte früher der Terrororganisation al-Qaida an, hat sich jedoch vor Jahren von der Gruppe losgesagt.
Seit dem Regimewechsel präsentiert er sich als moderat, doch die israelische Regierung hält den Sinneswandel für eine Farce. In ihren Reihen herrscht die Überzeugung, dass man sich in der Einschätzung islamistischer Akteure zu lange von einem rationalen Verständnis leiten ließ. Die Terrororganisation Hamas ist demnach in der Vergangenheit als Akteur betrachtet worden, dem es vor allem um politische Einflusszonen, materielle Ressourcen oder Verhandlungsspielräume gehe.
Nie wieder ein sicherheitspolitischer Blindflug
Die ideologische Komponente sei unterschätzt worden – so sehen es israelische Regierungsvertreter. Diese Fehleinschätzung habe den Großangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktobers 2023 möglich gemacht. Daraus leitet die israelische Regierung eine neue, deutlich härtere Linie ab – auch gegenüber Syrien. Man will vermeiden, dass sich ein sicherheitspolitischer Blindflug wiederholt – und nutzt das Machtvakuum in Syrien für die neue Sicherheitsdoktrin.
Die IDF zerstörte unter anderem die syrische Marine und die Chemiewaffen des Assad-Regimes. Außerdem ist die israelische Armee in den Golanhöhen vorgerückt, in eine eigentlich demilitarisierte und offiziell von Syrien kontrollierte Zone. Bereits seit den 60er-Jahren besetzt Israel Teile der Gebiete.
Die Militäreinsätze zielen laut Zehavi darauf ab, ein Szenario zu verhindern, in dem sich extremistische Proxy-Kräfte der neuen syrischen Regierung entlang der israelischen Grenze festsetzen und eine Bedrohung für den jüdischen Staat darstellen. Sie sagt, Israel habe nicht die Absicht, sein Territorium zu erweitern. „Das ist nicht das Thema“, sagt sie. „Das Thema ist die Sicherheit unserer Gemeinden an der Grenze.“ Insofern haben Israel und drusische Gruppen in Syrien teils ähnliche Interessen.
Unklar ist, wer für die jüngste Eskalation verantwortlich ist. Auslöser der ersten Angriffe auf die Drusen war eine Tonaufnahme, in der sich ein Mann abfällig über den Propheten Mohammed äußerte. Die Aufnahme wurde einem drusischen Geistlichen zugeschrieben, der jedoch bestritt, so etwas je gesagt zu haben. Das syrische Innenministerium gab bekannt, erste Ermittlungen hätten ergeben, dass der Geistliche nicht für den Audio-Clip verantwortlich sei. Vertreter der Drusen in Jaramana erklärten, die Aufnahme sei gefälscht und solle gezielt Unruhe stiften.
Ebenfalls unklar: wer genau die Drusen angriff. Beobachter sprechen von verschiedenen Gruppen, die teils offizielle Uniformen tragen und dem regierungstreuen Umfeld zugerechnet werden. Die Übergangsregierung unter Präsident al-Sharaa hat Mühe, die Vielzahl bewaffneter Gruppen zu kontrollieren, die sie im Feldzug gegen Diktator Assad unterstützten. Viele dieser Milizen, teils stark radikalisiert, agieren weiterhin eigenständig.
Wie brisant diese Gemengelage ist, zeigte sich im März: An der syrischen Küste, in der Gegend um Tartous und Latakia, kam es zu Massakern. Nach Angriffen von Assad-Anhängern auf Sicherheitskräfte strömten verbündete Milizen, ausländische Kämpfer und sogar Zivilisten an die Küste und töteten tagelang teils wahllos Alawiten, einer Minderheit, der auch Assad angehört.
Die Drusen betrachten die damaligen Vorfälle als Warnsignal. Sie trauen der neuen Regierung nicht, die Gewalt einzudämmen, und fürchten weitere Bluttaten – auch gegen die eigene Volksgruppe. Ähnlich misstrauisch sind kurdische Gruppen, die im Nordosten Syriens Gebiete kontrollieren. Sowohl Kurden als auch Drusen beharren daher auf ihrer Autonomie.
Syrische Drusen betonen Eigenständigkeit
Die Berichte über Angriffe von Islamisten auf Drusen zeigten, dass al-Sharaas Regierung „keine vollständige Kontrolle über die islamistischen Milizen im Land“ habe, sagte Khaled Davrisch, der die kurdische Selbstverwaltungszone in Nordostsyrien in Deutschland vertritt. „Nur durch eine Dezentralisierung des Landes mit Rechten für alle Bevölkerungsgruppen wird es Stabilität in Syrien geben.“
Während Israel versucht, über den Schutz der Drusen Einfluss auf die neue syrische Ordnung zu nehmen, betonen deren religiöse Führer in Suweida ihre Eigenständigkeit – zumindest nach außen. „Israel hat kein Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen“, sagte Scheich Yasser Abo Fakher WELT im März. Er ist Sprecher von Scheich Hikmat al-Hijri, dem höchsten religiösen Autorität der Drusen in Südsyrien.
„Wir haben nicht um [Israels] Intervention gebeten“, so Abo Fakher. Israel säe Zwietracht, Zerstörung und Spaltung innerhalb Syriens. Die Skepsis gegenüber dem jüdischen Staat ist weit verbreitet. Doch zugleich ist den Drusen bewusst, dass Israels militärische Präsenz ihre Verhandlungsposition gegenüber der neuen syrischen Führung erheblich stärkt.
Mittlerweile kursierten Berichte über eine Waffenruhe, die zwischen regierungstreuen und drusischen Kräften erreicht worden sein soll. Wie belastbar diese ist, wie es weitergeht, wie weit Israel zu gehen bereit ist – all das sind offene Fragen. Klar ist bislang nur eines: Die Aussicht auf Stabilität in Syrien ist weiter in die Ferne gerückt.
Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.