"Keiner ist mehr sicher in diesem Land"
Eigentlich klang die Rede, die Ömer Aras in Schwierigkeiten bringen sollte, ziemlich diplomatisch. Doch das schützt einen in der Türkei nicht mehr davor, dass eines Morgens die Polizei an der Tür klopft. Auch nicht als Topmanager, als berühmter Banker, als Führungsfigur des wichtigsten Industrieverbands in diesem Land.
Am 13. Februar sagte Ömer Aras: "Die Stimmung in unserem Land ist schlecht. Wir befinden uns in einer Vertrauenskrise."
Er sagte: "Es ist uns nicht gelungen, ein vertrauensvolles Umfeld für Investoren zu schaffen."
Er sagte: "Die Inflationsbekämpfung muss 2025 weitergehen."
Drei Monate später kommt er den Gerichtsflur entlanggelaufen. Ömer Aras, der Angeklagte. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm "öffentliche Verbreitung irreführender Informationen" und Beeinflussung der Justiz vor. Nicht für alle der hier zitierten Sätze, aber für Teile der Rede. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Aras ist ein schlanker Mann mit weißgrauem Haar und freundlichem Blick, verfolgt von einer Entourage, empfangen von ein paar Journalisten, die ihm mit Handykameras entgegenstürmen. Und von Dutzenden Geschäftsleuten im Anzug, die vor dem Gerichtssaal warten. Sie sind aus Solidarität in den Istanbuler Justizpalast gekommen.
Aras, 70, schüttelt Hände, klopft auf Schultern, er begrüßt seine Verteidiger und deutet auf die Tür zum Saal, verdutzt angesichts des Ansturms: "Die werden dort nicht alle reinpassen", sagt er.
Ömer Aras hat 1987 die Finansbank mitgegründet, heute ist er ihr Vorstandsvorsitzender und Chef von 14.500 Mitarbeitern, er blieb es, nachdem 2016 die Qatar National Bank die Bank übernahm. Und er leitet den Hohen Beirat der Tüsiad, der Türkischen Vereinigung der Geschäftsleute und Industriellen. In diesem Prozess geht es also nicht nur um den Ausgang eines Strafverfahrens. Es geht auch darum, ob sich Wirtschaftsvertreter wehren können gegen einen Autokraten, der das Land in eine Krise gestürzt hat. Oder ob es dafür zu spät ist. 23 Jahre nachdem Recep Tayyip Erdoğan die Macht übernommen hat, liegt die Inflation in der Türkei bei 38 Prozent. Immerhin: Sie lag unter Erdoğan schon mal deutlich höher, bei 85 Prozent. Doch von seiner erratischen Niedrigzinspolitik hat er sich verabschiedet. Trotzdem ist die Lage offenbar zu schlecht, um als Industrievertreter dazu zu schweigen. Das Problem ist bloß, dass der Präsident kaum noch Widerspruch duldet.
Auf dem Gerichtsflur fragt Ömer Aras: "Wo ist eigentlich Orhan?" Sein Mitangeklagter fehlt noch. Orhan Turan, der Tüsiad-Vorsitzende. Auch er hielt eine Rede, als sich der Hohe Beirat im Februar versammelt hatte. Er sprach über Korruption und Vetternwirtschaft in Behörden. Über zu lasche Baukontrollen, die so viele das Leben gekostet hätten, 78 Opfer bei einem Hotelbrand in diesem Januar, Zehntausende beim Erdbeben von 2023. Und über die Justiz, der die Menschen nicht mehr vertrauten.
Orhan Turan: "Ohne sofortige Herstellung der Rechtsstaatlichkeit lassen sich weder in der Wirtschaft noch in der Gesellschaft, weder in der Innenpolitik noch in der Außenpolitik unsere Probleme lösen."
Die Tüsiad wurde 1971 gegründet und gilt als prowestlich und säkular. Mit der islamisch-konservativen AKP-Regierung, unter der die Türkei einen Aufschwung erlebte, hat sie sich lange arrangiert. Und einen Verband mit 4.500 Unternehmen, die die Hälfte der türkischen Wertschöpfung und 80 Prozent aller Körperschaftsteuern erwirtschaften, hätte man ohnehin für zu mächtig gehalten, als dass ihn die Regierung wegen kritischer Reden angreifen würde.
Bis jetzt. "Die laufen herum, um Spannungen im Land zu erzeugen, so als würden sie Ermittlungen gegen sich herausfordern", sagte der Justizminister.
"In der neuen Türkei muss man seine Grenzen kennen", sagte Erdoğan, als er fünf Tage nach den Reden von einer Asien-Reise heimgekehrt war. Ein Wirtschaftsverband habe sich gefälligst wie ein solcher zu benehmen. "Man stachelt nicht die Nation auf", sagte er, "man setzt nicht die Justiz unter Druck."