Hat hier jemand Enteignung gesagt?
Das Votum von mehr als einer Million Wählerinnen und Wählern hat der Berliner Senat fast vier Jahre lang recht erfolgreich ignoriert. Mit deutlicher Mehrheit stimmten sie im September 2021 für die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Doch passiert ist seitdem so gut wie nichts. Die damalige als auch die heutige Landesregierung zeigten kein ernsthaftes Interesse daran, den Volksentscheid umzusetzen. Das Ergebnis war auch nicht bindend.
Umso überraschender ist die jüngste Aufregung über einen Gesetzentwurf der Berliner SPD in diesem Zusammenhang, besonders beim Koalitionspartner. "Völlig auf Abwegen" sei die SPD, schrieb zuletzt die Berliner CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein auf der Plattform X. Eilig versicherte Berlins Regierender CDU-Bürgermeister Kai Wegner, dass es mit ihm keine Enteignungen geben werde. In der Bild-Zeitung ist sogar von einem "Angriff auf die Wirtschaft" die Rede. Will die SPD den Volksentscheid jetzt etwa doch noch umsetzen?
Längst ist klar: Möglich wäre es. Zu diesem Ergebnis kam schon vor zwei Jahren eine Expertenkommission. Sie war von der Vorgängerregierung eingesetzt worden und hatte ein Jahr lang rechtliche und finanzielle Risiken abgewogen. Doch weder der alte noch der neue Senat ließ sich davon gänzlich überzeugen. Die neue Landesregierung von CDU und SPD vereinbarte lediglich, einen rechtlichen Rahmen für sogenannte Vergesellschaftungen zu schaffen. Und genau dieses Rahmengesetz sorgt jetzt für Streit.
Der ZEIT liegt der aktuelle Arbeitsentwurf vor, und der hat es durchaus in sich. In dem Dokument werden weitreichende Eingriffe in Eigentumsstrukturen skizziert. Nicht nur Immobilienbestände sollen demnach künftig in öffentlichen Besitz überführt werden können, sondern auch andere Vermögenswerte wie Bodenschätze oder Produktionsmittel wie Fabriken und Maschinen sollen verstaatlicht werden können. Es gehe um die "Deckung eines öffentlichen Bedarfs der Daseinsvorsorge ohne Gewinnabsicht", heißt es in dem Entwurf. Beispielhaft werden unter anderem die Versorgung mit Wohnraum und Energie, der öffentliche Nahverkehr und Gesundheitsdienste genannt.
Es wäre ein enormes juristisches Experiment
Eigentümer müsste das Land Berlin entschädigen, sollte der Senat das geplante Gesetz anwenden. Wie teuer solche Entschädigungen wären, ist umstritten. Im Entwurf wird jedoch darauf verwiesen, dass die Summe geringer sein könnte als der Marktwert etwa einer Immobilie und nicht zwangsläufig in Geld bezahlt werden müsste. Grundlage der Bemessung könnten demnach erwartete gemeinwirtschaftliche Erträge oder auch ein hypothetischer Wert sein. Finanzielle Hürden, die in der Vergangenheit immer wieder als Argument gegen eine Umsetzung des Volksentscheids vorgebracht wurden, wären dem Entwurf zufolge damit überwindbar.
Zu einer ähnlichen Auffassung kam bereits die eingesetzte Expertenkommission. Das Gremium stützte sich wie der Gesetzentwurf auf das Grundgesetz. Dort wird zwischen Vergesellschaftungen, um die es bereits beim Volksentscheid ging, und Enteignungen unterschieden. Während die Enteignung auf einzelne Vermögensbestandteile wie Grundstücke abzielt, zum Beispiel um den Bau einer Autobahn zu ermöglichen, geht es bei einer Vergesellschaftung darum, Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige in die Gemeinwirtschaft zu überführen. Das Problem: Artikel 15 des Grundgesetzes, der Vergesellschaftungen regelt, wurde in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie angewandt. Enteignungen nach Artikel 14 sind dagegen durchaus üblich. Sie stehen jedoch in Berlin nicht zur Debatte.