Schafft den Föderalismus ab!

Felix Ekardt forscht als Leiter der Leipziger Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik sowie Professor an der Uni Rostock zu Politikkonzepten für mehr Nachhaltigkeit. Er sucht anlässlich seiner oft sehr kontroversen Positionen die Diskussion mit den Leserinnen und Lesern der ZEIT. Auch diesmal antwortet er direkt unter dem Artikel auf Leserkommentare. Diskutieren Sie mit!

Als die Alliierten nach 1945 die Festschreibung des Föderalismus im Grundgesetz erzwangen, sahen sie in ihm ein Bollwerk gegen den Autoritarismus. Dieses Versprechen wird inzwischen auf den Kopf gestellt, wenn man sich die Wahlerfolge der AfD und des BSW im Osten anschaut. Die wären auf Bundesebene so nie möglich. 

Vor allem aber behindert der Föderalismus Lösungen für viele Probleme. Denn er ist der Kern der allseits beklagten und doch von Regierungen egal welcher Partei nie abgestellten Bürokratie. Der Grund, weshalb die Digitalisierung staatlicher Tätigkeit seit Jahren nur schleppend vorankommt, liegt darin, dass sich nicht einfach "der Staat" digitalisiert. Vielmehr tun dies der Bund, 16 Bundesländer und häufig noch die Kommunen nebeneinanderher. Riesige Abstimmungsbedarfe und ein langsames Tempo sind die Folgen.

Noch bedrohlicher: Der durch Russlands Ukrainekrieg existenziell wichtige Zivilschutz hat Handlungsbedarf. Doch die Zuständigkeiten sind zersplittert zwischen Bund, Bundesländern und zahlreichen Behörden. Testet Russland die Nato weiter und schießt irgendwann Raketen statt auf Kyjiw in Richtung Berlin oder Hamburg, wäre nicht nur die Bundeswehr, sondern auch der Bevölkerungsschutz überfordert.

Auch den Naturschutz lähmt die föderale Bürokratie. Die EU-Wiederherstellungsverordnung von 2024 schreibt vor, Ökosysteme schrittweise wieder aufzubauen. Ohne eine halbwegs intakte Natur mit Bestäubungsinsekten, fruchtbaren Böden und Grundwasserreinigung können wir auf Dauer nicht leben. Doch wer kann das in Deutschland umsetzen? Das Grundgesetz sieht vor, dass die Länder von den rudimentären, die Natur oft eher zerstörenden Bundesvorgaben sogar noch weitreichend abweichen können. Die Folge: Viele Sitzungen, viele konträre Meinungen, und die meisten Länder glauben letztlich, einfach völlig untätig bleiben zu können. 

Die Bundesländer bremsen den Ausbau der Erneuerbaren

Aus den Verwaltungen hört man, die vorhandenen naturschutz- oder wasserrechtlichen Regelungen genügten doch. Also genau die Regeln, die seit Jahrzehnten das Artensterben nicht stoppen, sollen plötzlich wie von Zauberhand Ökosysteme nicht nur auf dem unzureichenden Status quo schützen, sondern sogar wiederherstellen können.

Beim Klima sieht es ebenso düster aus. Erst im Juli hat der Internationale Gerichtshof (IGH) das Pariser Klimaabkommen und die Menschenrechte so ausgelegt, dass die globale Erwärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Temperaturniveau begrenzt werden muss. Wie kürzlich mit den neuesten Klimadaten vorgerechnet, bedeutet 1,5 Grad faktisch, dass Deutschland sein Budget an Klimagasen inzwischen aufgebraucht hat.

Die Reaktion darauf funktioniert schon in der ebenfalls föderalen EU nicht: Wenn jetzt zur nächsten Klimakonferenz die Staaten eigentlich strengere Klimaziele verkünden müssten, kommt von der EU keine klare Festlegung – schon gar nicht eine, die der dramatischen Lage entspräche. Und selbst wenn die käme, könnten die deutschen Bundesländer immer noch den realen Klimaschutz lahmlegen. Statt den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen, bremsen sie ihn anhaltend, etwa mit ihren Planungsbehörden, die trotz aller EU- und Bundesvorgaben weiterhin große Spielräume haben.

Das Ganze ist auch für die Wirtschaft fatal. Dass ein wirksamer Klima- und Naturschutz für die Volkswirtschaft um ein Vielfaches billiger wäre als ein "Weiter so", ist wissenschaftlich unstreitig. Auch in die Behördenvielfalt und die unendlich vielen Abstimmungsvorgänge fließen viele Steuergelder – und sie belasten Bürger und Unternehmen, sorgen für Zeitverlust und Kosten. Trotzdem und trotz klarer völker- und verfassungsrechtlicher Vorgaben in den Menschenrechten und im Umweltvölkerrecht bleiben die selbst ernannten Wirtschafts- und Rechtsstaatsparteien der politischen Mitte untätig.

Demokratiefrust befördert die AfD

Der Föderalismus ist in seiner jetzigen Form eines der Haupthindernisse für wirksamen Klima- und Naturschutz, eine sinnvolle Digitalisierung und wirksamen Zivilschutz. Bekommen wir all das nicht in den Griff, wird der spezifisch deutsche Föderalismus die Demokratie untergraben, zu deren Schutz er nach 1945 wiederbelebt wurde. Denn wie man schon jetzt am Zuspruch der AfD in Wahlumfragen sieht: Verspricht ein Staat immer nur alles Mögliche, versandet jede Initiative dann aber in der föderalen Bürokratie, ist der Demokratiefrust nicht mehr zu bremsen.

Will man all das angehen, genügt es nicht, etwa beim Zivil-, Klima- und Naturschutz dem Bund etwas breitere Zuständigkeiten zu geben. Wirklich problemlösend wäre, die Bundesländer als das zu begreifen, was die Regionen in Frankreich oder Italien sind: Einheiten, die wenig eigene Regelungen erlassen können und die auch in der Verwaltung stärker von der Bundesebene aus gesteuert werden. Das wäre mit einer Verfassungsänderung zulässig. Denn auch dann wäre noch Bundesstaatlichkeit und "die grundsätzliche Gliederung des Bundes in Länder" beibehalten, die nach Artikel 79 des Grundgesetzes – 1948 vorformuliert von den Alliierten – auch per Verfassungsänderung nicht abgeschafft werden könnten. Ebenso wichtig: Deutschland müsste mehr EU-einheitliche Regelungen fordern statt wie zuletzt weniger.

Der Einwand liegt nahe: Zu viele wollen weder mehr EU noch mehr Bund – vor allem die Politiker selbst. Denn in einem solchen System wären wahrscheinlich weniger Posten zu verteilen. Einige würden sich auch weniger wichtig fühlen. Gleichzeitig würde das Ganze fast allen Menschen nützen. Die Chance, auf EU- und Bundesebene jemanden zu wählen, der dann auch wirklich Entscheidungen durchsetzen könnte, würde steigen, die allgemeine Politikverdrossenheit würde abnehmen. Das nützt letztlich auch den demokratischen Parteien. Dennoch würde eine solche Reform erfordern, dass aus der Zivilgesellschaft Druck gemacht wird. Lässt man alles achselzuckend weiterlaufen, läuft man indes gegen die Wand. Ökologisch, ökonomisch, demokratisch – und bei der Resilienz gegen die immer stärkere militärische Bedrohung aus Richtung Osten.