Die Wurst als Waffe
Damit das klar ist: Was aussieht wie eine Wurst, riecht wie eine Wurst und auch ziemlich so schmeckt wie eine Wurst, ist keine Wurst. Zumindest soll es künftig nicht mehr "Wurst" heißen – jedenfalls dann nicht, wenn kein Tier darin steckt. Am Mittwochmittag hat das EU-Parlament mit Mehrheit der Mitte-rechts-Fraktionen entschieden, dass pflanzliche Produkte wie Tofuwurst oder Sojaschnitzel ihre längst vertrauten Namen verlieren sollen. Gleiches gilt für alle Lebensmittel, die die Worte "Hamburger", "Steak", "Frikadellen" und "Eigelb" sowie "Eiweiß" im Namen tragen: künftig bitte nur noch für Essen tierischen Ursprungs zu verwenden. Von den Befürwortern wird das nun als Verbraucherschutz verkauft. Aber das ist natürlich ein Scheinargument.
Wer heute behauptet, Verbraucher könnten im Supermarkt die Tofuwurst nicht von der Schweinebratwurst unterscheiden, unterschätzt die Mündigkeit der Menschen – oder will sie gezielt für politische Zwecke kleinreden. Die Verpackungen pflanzlicher Alternativen sind klar beschriftet, das Wort "vegan" ist nicht zu überlesen, die Zutatenliste ist eindeutig. Das Risiko, dass jemand, der nach Fleisch sucht, aus Versehen Tofu kauft, ist ungefähr so groß wie die Gefahr, bei der Suche nach Orangensaft ungewollt Tomatensaft zu erwischen. Worum also geht es dann?
Im Kampf um Diskurshoheit und Identitäten ist das Schnitzel längst zur politischen Waffe geworden. Und zwar zu einer der wenigen schlagkräftigen, die die politische Rechte überhaupt noch im Arsenal hat. Auf vielen anderen Feldern musste sie sich längst der Realität beugen: Ob es um Schuldenaufnahme in der Krise geht, um Klimaschutzmaßnahmen, die sich nicht länger aufschieben lassen, oder um die schlichte Notwendigkeit, den Sozialstaat zu erhalten – die Zeiten, in denen man sich mit ideologischer Reinheit gegen alles "Linke" abgrenzen konnte, sind vorbei. Doch beim Fleisch, da darf man noch zünftig sein.
Kulturkampf ums Abendbrot
Hier wird der Kulturkampf ums Abendbrot geführt, hier lässt sich mit der Wurst in der Hand gegen den angeblich bevormundenden Zeitgeist polemisieren. Der Teller ist eine der letzten Bastionen, auf der man sich gegen den Wandel stemmen kann, ohne direkt die Zwänge zu spüren, die einen andernorts längst eingeholt haben. Das Problem dabei: Wer die Wurst (also die vom Tier) zum Symbol der Freiheit erklärt, verleugnet die Folgekosten des Fleischkonsums und bremst den dringend nötigen Wandel in Landwirtschaft und Ernährung aus, auf Kosten von Klima, Gesundheit und natürlich auch der Tiere.
Dass der Fleischkonsum in Europa tendenziell sinkt, dass immer mehr Menschen aus ethischen, gesundheitlichen oder ökologischen Gründen zu pflanzlichen Alternativen greifen – all das wird übertönt vom Ruf nach Bewahrung des Altbekannten. Leidtragende sind im Zweifel nicht nur die Hersteller, die ihre Produkte mit Fantasienamen versehen müssen (Tofu-Stängel? Seitan-Fetzen?), sondern auch die Landwirte, die längst auf Erbsen, Soja oder Hafer setzen. Für sie ist das Signal fatal: Wer sich auf neue Märkte einstellt, hat am Ende das Nachsehen.
Das Parlament hätte den Mut zeigen können, den Wandel zu begleiten. Stattdessen verbeugt es sich vor der Fleischlobby und erschwert den Zugang zu einer wohl zukunftsfähigeren Branche. Wobei die Abstimmung des Europaparlaments ja erst mal noch kein Gesetz, sondern nur eine Etappe ist.
Als Nächstes stehen die Verhandlungen mit dem Europäischen Rat an, also den Regierungsvertretern der 27 Mitgliedsstaaten. Und während sich die Mehrheiten im Europaparlament durch die jüngste Wahl nach rechts verschoben haben, hat der Europäische Rat zuletzt eher progressiv abgestimmt – zumindest progressiver als die EU-Abgeordneten, etwa bei der Klimagesetzgebung. Am 14. Oktober fangen Parlament und Rat an, um die Wurst zu verhandeln. Erst wenn ein gemeinsamer Text steht, kann das Gesetz in Kraft treten. Ausgang? Offen. Vielleicht bleibt der Wurst am Ende ja doch ihr Tofu erhalten.