Wie das Pflegesystem repariert werden soll
Ist Deutschland auf die größte Pflegewelle seiner Geschichte vorbereitet? Am Montagabend hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Zukunftspakt Pflege ihre ersten Zwischenergebnisse vorgelegt. Wer einen radikalen Wurf erwartet hat, vielleicht sogar einen Systemwechsel hin zu einer Pflegevollversicherung, wird enttäuscht. Stattdessen setzt man auf einen pragmatischen Weg: Ein Bündel von Maßnahmen soll die Versorgung und Finanzierung verbessern und das System stabil halten – ohne seine Grundarchitektur anzutasten. "Stetige Beitragssteigerungen und Mehrbelastungen sind nicht die Lösung", sagte Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) bei der Vorstellung der Zwischenergebnisse. Man müsse "Potenziale in der Versorgung heben" und die Wirkung der Leistungen "auf den Prüfstand" stellen, die Einnahmen müssten "ausreichen, um das Leistungsversprechen zu finanzieren".
Die Zeit drängt. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den 2030er- und 2040er-Jahren in die Phase besonders hoher Pflegebedürftigkeit eintreten, wachsen Bedarf und Kosten deutlich. Schon heute warnt die Arbeitsgruppe vor einem strukturellen jährlichen Finanzierungsloch im zweistelligen Milliardenbereich, wenn nicht gegengesteuert wird; in einer Modellrechnung wird bis 2033 eine Oberkante von rund 15 Milliarden Euro genannt – berechnet mit den heutigen Preisen und Kosten für die Pflege.
Die soziale Pflegeversicherung soll eine Teilversicherung bleiben, Pflegebedürftige müssen also weiterhin einen Teil der Kosten selbst tragen. Aber die Eigenanteile sollen begrenzt oder ihr Anstieg wenigstens gedämpft werden.
Dafür gibt es dem Ergebnispapier zufolge drei Hebel. Erstens sollen die Leistungen künftig automatisch angepasst werden, entweder an die Lohnentwicklung oder an die Inflation. Das soll verhindern, dass die Kaufkraft der Leistungen durch Preis- und Lohnanstiege schleichend erodiert – sprich: Die festen Euro‑Beträge, die die Pflegeversicherung zahlt, steigen künftig regelmäßig, entweder im Takt der allgemeinen Inflation, das wäre die untere Variante, oder im Takt der Lohnentwicklung, das wäre die obere Variante.
Zweitens ist eine Deckelung der Eigenanteile in Pflegeheimen, also für die stationäre Pflege, vorgesehen. Im Kern würde ein fester, bezahlbarer Monatsbetrag für die Bewohnerinnen und Bewohner festgelegt; Mehrkosten darüber hinaus trüge die Versicherung. In der Pflege wird dieses Konzept schon länger als Sockel-Spitze-Tausch bezeichnet. Dieser ist aus Sicht von Fachleuten dringend nötig, schon heute liegt die monatliche Eigenbeteiligung im ersten Jahr im Bundesdurchschnitt bei gut 3.100 Euro – Tendenz steigend.
Stabilisieren, wo es nur geht
Drittens steht eine verpflichtende Zusatzversicherung im Raum, die verbleibende Eigenanteile absichert. Das erinnert ein wenig an die staatlich geförderte private Altersvorsorge. Also quasi Riestern für die Pflege? Die Kritik an diesem Vorhaben ist groß, denn Zusatzpolicen gelten als untauglich, eine Pflichtlösung bliebe politisch umstritten und müsste sozial flankiert werden.
Daneben soll der Pflegevorsorgefonds, der heute mit 1,9 Milliarden Euro angesichts der fehlenden mindestens 15 Milliarden Euro eher ein kleiner, schlecht ausgestatteter Sondertopf ist, zu einer dauerhaften Kapitalstütze ausgebaut werden. Die Idee: renditeorientiert anlegen, rechtlich vor politischem Zugriff schützen und die Erträge regelmäßig in das Umlagesystem einspeisen. Das wäre ein zweiter Pfeiler, der unabhängig von der Lage am Arbeitsmarkt und der Konjunktur ist, unabhängig von Beiträgen also, allerdings ist so etwas nur wirksam, wenn das Volumen spürbar wächst und die Governance klar geregelt ist.
Auch die Versorgung soll verbessert werden. Anders als zunächst diskutiert, sollen Pflegegrade unverändert bleiben. Beim Einstiegspflegegrad 1 will die Arbeitsgruppe den Fokus stärker auf Prävention und frühe Begleitung legen – sprich, Bewegungstraining, Umbau der Wohnung, Sturzprävention und eine kluge Nutzung von Rehabilitation sollen verhindern, dass die Gebrechlichkeit zunimmt, sie wenigstens verzögern. Mit dieser geplanten Neuausrichtung von Pflegegrad 1 weg von Formularen, die lediglich einen Entlastungsbeitrag vorsehen, hin zu wirksamer Prävention könnten vermeidbare Folgekosten eingespart werden, argumentiert die Arbeitsgruppe. Außerdem sollen Beratung, Schulungen und ein echtes Lotsensystem (ein sogenanntes Case-Management) gebündelt werden, damit pflegende Angehörige sich weniger durch Paragrafen kämpfen müssen und zu Hause stabil versorgen können. Das klingt vernünftig, wünschen sich doch die allermeisten Menschen, solange wie möglich zu Hause und eigenständig sein zu können. Aber ohne pflegende Angehörige wird die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland kaum zu versorgen sein.
Auch die Frage, was mit der ambulanten Pflege, wo die meisten Menschen versorgt werden, ist, wurde beim Zwischenergebnis nicht beleuchtet. Die Expertinnen und Experten der Arbeitsgruppe haben auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Eine Übertragung des Modells wurde zunächst vertagt und soll bis 2027 geprüft werden.
Bis zum Jahresende soll der Abschlussbericht vorliegen. Kurzfristig werden die jetzigen Vorschläge für Entlastung sorgen, auch bei der Finanzierung, vieles ist aber noch nicht ausgearbeitet. Die Länder wollen versicherungsfremde Aufgaben – etwa Rentenbeiträge für pflegende Angehörige – konsequent aus Steuern finanzieren, um die Pflegeversicherung sofort zu stabilisieren. Dafür braucht es eine eindeutige gesetzliche Regelung.