Er kann auch anders

Niemand soll das riesige weiße Plakat übersehen. Auf meterhohen Stahlträgern steht es da. Unzählige Mofas, verbeulte Busse und schwarze Limousinen müssen an ihm vorbei, wenn sie vom Flughafen nach Bangalore fahren, in diese 14-Millionen-Einwohner-Stadt im indischen Süden, Hauptstadt der IT-Industrie des Landes. "ChatGPT" steht auf dem Plakat, der Name des bekanntesten Chatbots der Welt. In der Mitte der Plakatfläche prangt eine Frage an die künstliche Intelligenz hinter ChatGPT: "Kannst du mir helfen, herauszufinden, in welchem Job ich gut wäre?"

Eine Frage, perfekt zugeschnitten auf die junge Bevölkerung des Landes. Für manche hat vielleicht sogar OpenAI selbst einen Job – die Firma hinter ChatGPT eröffnet Ende des Jahres ihr erstes Büro in Indien. Auch ein Datenzentrum will das Unternehmen auf dem Subkontinent bauen. Andere KI-Firmen drängen ebenfalls auf den Markt: Konkurrent Anthropic plant, Anfang 2026 in Bangalore sein erstes Büro zu eröffnen. KI ist ein Boomgeschäft. Gemessen an der Zahl der Nutzer, ist das Land schon heute der zweitgrößte Markt für die Chatbots, gleich nach den USA.

Aber an Orten wie Bangalore und den anderen indischen IT-Metropolen wie Hyderabad, Pune und Chennai wird auch über die Folgen für den Arbeitsmarkt gesprochen: Sind die neuen KI-Angebote eher eine Bedrohung als ein Versprechen? Könnten sie das automatisieren, was bisher Millionen Inder preiswert für Firmen in aller Welt erledigen: programmieren etwa und auf einfache Weise Daten verarbeiten? Indien galt lange als das "Backoffice" des Westens. Aber als Tata Consultancy Services, einer der größten Outsourcing-Anbieter, Mitte des Jahres ankündigte, 12.000 Stellen abzubauen, immerhin zwei Prozent seiner Belegschaft, wurde das gleich aufgeregt als Beginn einer ganzen Welle solcher Entlassungen gedeutet.

Ein IT-Unternehmen mit privatem Metroausgang

In der Innenstadt von Bangalore deutet auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass sich die Karrierechancen in der IT verschlechtern würden. In den Cafés entlang der zentralen Church Street starren junge Leute auf ihre MacBooks; man ordert hier Flat White und Avocadotoast.

Eine Stunde Metrofahrt weiter südlich, in der "Electronic City" mit ihren knapp 160 IT-Unternehmen, strömen jeden Morgen Tausende Angestellte aus der Metrostation: blaues Hemd oder weiße Bluse, leicht ausgebeulter Business-Rucksack, oft ein Schlüsselbund mit Zugangskarte um den Hals. Die Station ist nach Infosys benannt, einem der größten indischen IT-Unternehmen. Es hat sich hier auch gleich einen privaten Metroausgang bauen lassen, reserviert ausschließlich für seine Mitarbeiter. Nicht weit von hier, an der technischen Universität International Institute of Information Technology Bangalore sind etwa 1.500 Studierende eingeschrieben, die meisten in IT-Fächern.

Balaji Parthasarathy lehrt hier Wirtschaftsgeografie und -soziologie und kennt die Branche genau. Der Professor sagt: Man sollte vorsichtig sein, wenn man über die indische IT-Industrie allzu pauschale Vorhersagen trifft. Ja, seit den Nullerjahren seien hier massenhaft Backoffice-Arbeitsplätze entstanden – oft in Callcentern, wo Angestellte mit einem Headset sitzen und amerikanischen Kunden ihren Kontostand mitteilen. Allerdings würden die Beschäftigten eben längst nicht mehr nur schlichte Dateneingaben, Auskunftsdienste und Buchhaltungstätigkeiten erledigen.

Inzwischen, sagt der Professor, gebe es hier auch indische Unternehmen, die Radiologen beschäftigen, um die Röntgenbilder westlicher Patienten zu sichten. "Es ist nicht so, als könnte ein Highschool-Absolvent mal eben sagen, was auf solchen Röntgenaufnahmen zu sehen ist. Man braucht dafür eine entsprechende Ausbildung." Und das sei auch nur ein Beispiel. Einige Unternehmen hätten wichtige Funktionen ihrer Forschung und Entwicklung nach Indien verlagert.