Wie viel Wolf ist zu viel?
Wieder gibt es Streit um den Wolf. Diesmal in Brandenburg. Nirgendwo sonst leben mehr Wölfe in Deutschland, das steht fest. Zu viele, findet das dortige Agrarministerium. Denn Wölfe reißen Schafe und Ziegen. Sie davon abzuhalten, dazu reichen Elektrozäune und Herdenschutzhunde allein nicht. Während der Wolf sich deutschlandweit Jahr für Jahr weiter ausbreitet, sinkt die Akzeptanz, mit ihm zu leben.
Bald schon sollen Brandenburgs Jäger bis zu 150 Wölfe pro Jahr schießen dürfen. Damit wäre die offizielle Jagd auf Wölfe in Deutschland eröffnet, weit über den Abschuss einzelner Tiere hinaus. Schon heute dürfen Wölfe in Ausnahmefällen getötet werden, wenn sie wiederholt Herden angreifen.
Mehr als 4.000 Nutztiere sind zuletzt jährlich von Wölfen verletzt oder getötet worden, 2023 waren es sogar mehr als 5.000. Zwar jagen Wölfe in Deutschland zu 95 Prozent Rehe, gefolgt von Wildschweinen und Rotwild – nur ein sehr kleiner Teil sind Nutztiere wie Schafe oder Ziegen. Doch durch den starken Anstieg der gerissenen Tiere fordern viele, das Töten von Wölfen zu erleichtern. Mit 15 Prozent der Population wolle man vorsichtig anfangen, sagte Brandenburgs Staatssekretär Gregor Beyer, als er die Pläne Anfang der Woche im Lokalsender RBB präsentierte.
Aber kann eine Quotenjagd erreichen, dass Wölfe weniger Schafe und Ziegen reißen? Gefährdet es den Wolfsbestand, wenn Jägerinnen und Jäger nun wahllos Wölfe abschießen und damit die Sozialstruktur ganzer Rudel zerstören? Und überhaupt: Wie viele Wölfe sind zu viel?
Wie wir den Wolf sehen, so sehen wir die Welt
Die Debatte darum, was gutes Wolfsmanagement ist, hat mit dem Vorschlag aus Brandenburg gerade erst begonnen. Und sie offenbart: Was Jägerinnen, Hirten, Biologinnen oder Artenschützer für den richtigen Umgang mit dem Wolf halten, hängt vor allem davon ab, wie sie Natur begreifen.
Für Naturschützer, die dem Wolf freies Geleit geben wollen, ist Deutschlands Landschaft vor allem schützenswerte Natur, in der Beutegreifer wie der Wolf eine wichtige Rolle spielen für das ökologische Gleichgewicht. Von Förstern und Jägern fordern sie, wirtschaftliche Interessen hinter den Artenschutz zu stellen. Und von Weidetierhaltern, sich dem Wolf mit Herdenschutzhunden und Zäunen anzupassen.
Forstwirte und viele Jäger sehen im Wald eher eine Ressource von Holz und Wild. Für Weidetierhalter in der Kulturlandschaft sind Wölfe eine Gefahr für die Existenz. Und für andere ist das Gehölz vor der Haustür einfach ein Erholungsgebiet, in dem man Radfahren oder mit dem Hund spazieren will, ohne Angst zu haben, einem Wolf zu begegnen.
Niemand weiß, wie viele Wölfe genau in Deutschland leben
Dass Menschen den Wolf so sehen, wie sie die Welt sehen, zeigt sich schon im Streit um die Zahlen. Niemand weiß genau, wie viele Wölfe es hierzulande gibt.
Einzelne Tiere zu zählen, wäre kaum machbar. Wenigstens in diesem Punkt sind sich alle einig. Also vertraut die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) auf die wissenschaftlich anerkannteste Methode, den Wolfsbestand zu schätzen und erfasst die Territorien, die nachweislich von Wölfen besetzt sind.
Jedes Jahr veröffentlicht sie eine Deutschlandkarte mit Rastern, in denen Wölfe leben. Nur dort, wo man durch Sichtungen, Fotobeweise oder DNA-Proben ein Einzeltier, ein Paar oder ein Rudel nachweisen konnte, wird eine Besiedlung eingetragen. So kam die DBBW für Brandenburg zuletzt auf 58 Rudel, acht Paare, zwei Einzelwölfe und 210 eindeutig nachgewiesene Welpen.
Jedes Mal, wenn die Forschenden von der DBBW die neuen Wolfszahlen präsentieren, erklären sie Journalisten, wie unpräzise es ist, die mit Wölfen besetzten Territorien in absolute Wolfsbestände hochzurechnen. Und tun es am Ende doch. Zu hoch ist der Druck der Öffentlichkeit, wenigstens eine grobe Schätzung zu bekommen, wie viele Wölfe durch Deutschland streunen.
Also rechnen die Forscher mit einem Durchschnittsrudel von sechs bis zehn Tieren, multiplizieren das mit allen nachgewiesenen Rudeln, addieren die Paare und Einzeltiere und kommen auf eine Zahl, die weit niedriger ist als die Schätzungen der Jagd- und Bauernverbände. Denn es fehlen darin all jene Wölfe, die nie gesehen wurden, nie in eine Fotofalle getappt sind und von denen keine Haar- oder Kotprobe je in einem Labor zur Genanalyse gelandet ist.
In Brandenburg kommt man mit dieser groben Rechnung mit den aktuellsten Zahlen auf knapp 700 Wölfe. Die Dunkelziffer nie nachgewiesener Wölfe muss man sich dazudenken. Das macht der Brandenburger Landesjagdverband, indem er Grenzgänger dazurechnet. Er geht von mindestens zehn Tieren pro Rudel aus, und davon, dass die Wolfspopulation jedes Jahr um rund ein Drittel zulegt. So kommt er auf eine höhere Zahl als die DBBW. Entsprechend hält auch Gregor Beyer vom Agrarministerium 1.000 bis 1.600 Wölfe in seinem Bundesland für realistisch.