Wangs Mondfahrt
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 36/2025.
Wang Yaping muss ein folgsames Kind gewesen sein. Nur ein einziges Mal soll sie sich ihren Eltern, armen Obstbauern aus der östlichen Provinz Shandong, widersetzt haben. Die sahen für ihre Tochter keine große Laufbahn vor – nach Abschluss der Mittelschule sollte sie auf der heimischen Kirschplantage mitarbeiten. Wang Yaping aber hatte größere Träume. Heimlich soll sie sich an der Oberschule eingeschrieben haben, um später studieren zu können. Der Beginn ihrer Reise zu den Sternen.
So schildern es zumindest die chinesischen Staatsmedien: der Aufstieg einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen zur Astronautin. Es ist die Geschichte einer kommunistischen Bilderbuchkarriere. Noch an der Oberschule wurde Wang von einem Rekrutierungstrupp der Volksarmee entdeckt, der Nachwuchspiloten für Chinas Luftstreitkräfte suchte. Mit Bravour schloss sie die Militärakademie ab, qualifizierte sich von der Pilotin zur Astronautin, flog 2013 zum ersten Mal ins All, absolvierte acht Jahre später als erste Chinesin einen Außenbordeinsatz.
Eine ganze Generation chinesischer Schüler kennt heute Wangs Gesicht, weil sie bei ihren Weltraumfahrten regelmäßig Videolektionen für Schulklassen aufzeichnet. Als Parteimitglied gehört sie außerdem der Konsultativkonferenz des Volkes an, einer Art Zweitkammer des chinesischen Parlaments. Die Krönung ihrer Karriere steht der 45-jährigen Wang aber wohl noch bevor: Wenn die Volksrepublik in den nächsten Jahren Menschen zum Südpol des Mondes schickt, hat sie beste Chancen, als erste Chinesin und womöglich als erste Frau überhaupt den Erdtrabanten zu betreten. Sie würde Geschichte schreiben.
Die Aufstiegsgeschichte von Wang ist auch die des chinesischen Raumfahrtprogramms. Ähnlich bescheiden waren dessen Anfänge, und ähnlich kometenhaft verlief dessen Entwicklung. Chinas erster Satellit, genannt Dong Fang Hong I, funkte 28 Tage lang dasselbe Lied zur Erde: "Der Osten ist rot", eine Hymne auf Mao Zedong. Dann waren die Nickel-Cadmium-Batterien an Bord erschöpft, der rote Osten verstummte. Das war im Frühjahr 1970, und damals war die Volksrepublik ein Nachzügler. 1957 hatten die Sowjets den Sputnik gestartet, 1958 die Amerikaner ihren Explorer I. Und erst im Jahr 2003 schickte China den ersten "Taikonauten" ins All, vier Jahrzehnte nach den Sowjets und den Amerikanern, 2011 folgte die Raumstation Tiangong-1. Sie sah damals den sowjetischen Saljut-Stationen der 1970er-Jahre ähnlicher als der russischen Mir oder gar der Internationalen Raumstation (ISS).
Doch inzwischen hat China ein beachtliches Aufholrennen hingelegt: Mit dem Monderkundungsprogramm Chang’e gelangten mehrere robotische Missionen auf die Mondoberfläche, darunter die Sonde Chang’e 6, die auf der erdabgewandten Seite des Mondes Bodenproben nahm. Im Juni vergangenen Jahres landeten sie wohlbehalten in einer Kapsel in der Inneren Mongolei. Keiner anderen Raumfahrtnation war es zuvor gelungen, von dort Proben zur Erde zu bringen. Die komplizierte Choreografie von Chang’e mit Flug in die Mondumlaufbahn, Abstieg zur Oberfläche, Rückkehr in den Orbit und schließlich zur Erde gilt außerdem als Chinas Probelauf für einen Flug mit Menschen an Bord.
Der Name des Mondprogramms kommt aus der chinesischen Mythologie. Jedes Kind in der Volksrepublik kennt die Legende von der Mondgöttin Chang’e. Gemeinsam mit ihrem Mann, so heißt es, wurde sie einst wegen eines Fehltritts aus dem Himmel verstoßen. Weil die beiden aber nicht unter den Sterblichen auf der Erde leben wollten, brachten sie ein Zauberelixier in ihren Besitz. Doch bevor sie es gemeinsam trinken konnten, drang ein Dieb in ihr Haus ein. In Panik leerte Chang’e den Trank der Unsterblichkeit allein, worauf ihr Körper leicht und leichter wurde, bis sie abhob und davonflog – zum Mond. Dort lebt sie seither in Einsamkeit, begleitet nur von einem Kaninchen aus Jade namens Yutu. (So hieß übrigens ein Rover, den China Ende 2013 zum Mond brachte.)
Als Wang Yaping im vergangenen Jahr von der Nachrichtenagentur Xinhua nach ihren Träumen gefragt wurde, griff sie diese Legende auf. "Ich hoffe", sagte sie, "dass ich eines Tages vom Mond aus unseren schönen Planeten Erde betrachten kann." Und weiter: "Dann wäre ich die echte Chang’e. Ich habe immer gescherzt: Wenn ich zum Mond fliegen kann, will ich unbedingt ein Kaninchen mitnehmen."