"Glück ist nur eine Nebenwirkung der Evolution"

Nach einem Leben am Campus der Elite-Uni Oxford zieht der emeritierte Professor mit 84 Jahren gerade aufs Land. Weil sein Haus voller Kisten steht – 4.000 Bücher hat er schon eingepackt –, treffen wir uns im Hotel. Pünktlich erscheint Richard Dawkins in der Lobby.

DIE ZEIT: Herr Dawkins, könnten Sie uns im Schnelldurchlauf auf den neuesten Stand bringen? Was gibt’s Neues seit Charles Darwin?

Richard Dawkins: Darwin beschrieb 1859 in seinem Buch Über die Entstehung der Arten, wie sich Tiere und Pflanzen durch natürliche Selektion verändern. Ihm fiel auf, dass sich Tiere derselben Art äußerlich unterscheiden und sich Eigenschaften, die dem Überleben dienen, langfristig durchsetzen. So konnte er etwa erklären, warum Nektarvögel speziell geformte Schnäbel haben, die genau in die Blüten passen, aus denen sie trinken. Aber Darwin hatte noch keine Ahnung von den Gesetzen der Vererbung. Und die Struktur der DNA wurde erst gut 70 Jahre nach seinem Tod von Watson und Crick entdeckt.

ZEIT: Heißt das, Darwin ist überholt?

Dawkins: Im Gegenteil: Je mehr die Forschung über die Entstehung der Arten herausfindet, desto klarer wird, wie richtig Darwin lag. Die natürliche Selektion erklärt alle Formen von Leben, die wir heute kennen. Nur dachte Darwin, die Selektion siebe aus einer Gruppe einzelner Tiere oder Pflanzen diejenigen mit den besten Eigenschaften heraus. Heute wissen wir: Die Auslese selektiert nicht zwischen Individuen. Sondern zwischen Genen.

ZEIT: Was ist der Unterschied?

Dawkins: Die Entwicklung jedes Lebewesens wird von seinen Erbinformationen gesteuert. Gene, die sich positiv auf das Überleben auswirken, schaffen es mit höherer Wahrscheinlichkeit in die nächste Generation. Die anderen verschwinden mit der Zeit aus dem Genpool. Natürliche Selektion ist also das unterschiedliche Überleben von Genen im Genpool.

ZEIT: Ihr neuestes Werk trägt den englischen Titel The Genetic Book of the Dead. Die Kernidee ist, dass jedes Lebewesen ein wandelndes Geschichtsbuch sei. Was meinen Sie damit?

Dawkins: In jedem von uns steckt die komplette Menschheitsgeschichte. Wir alle – ebenso wie Tiere und Pflanzen – sind das Ergebnis der natürlichen Selektion über Jahrmillionen hinweg. Unsere Vergangenheit ist in unserem Genom und unseren Körpern als uralte Inschrift verewigt. Zwar wurden diese Zeilen immer wieder überschrieben. Aber auch die ältesten Textstellen wurden nie ganz gelöscht. Tief in diesem Ahnenbuch steht zum Beispiel geschrieben, dass wir Menschen einst auf Bäumen lebten. Und in noch tieferen Schichten finden sich Fragmente aus der Zeit, als unsere Vorfahren vom Meer an Land kamen.

ZEIT: Und was können wir heute damit anfangen?

Dawkins: Wenn eine Forscherin der Zukunft die heute noch unleserlichen Schriften ausgraben, entschlüsseln und lernen würde, das ganze Ahnenbuch zu lesen, könnte sie herausfinden, wie die Welt vor Jahrmillionen aussah und warum sich das Leben so entwickelt hat, wie es heute ist. Eines Tages werden wir noch viel genauer verstehen, woher wir selbst kommen.

ZEIT: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Dawkins: Ja, unser Kehlkopfnerv zum Beispiel. Der führt nicht direkt vom Gehirn zum Kehlkopf, sondern macht einen erstaunlichen Umweg: Er verläuft erst in den Brustkorb, schlingt sich dort um eine große Arterie und kehrt dann wieder zurück zum Kehlkopf, wo er die Muskeln der Stimmbänder versorgt. Bei Giraffen ist das genauso – da muss dieser Nerv den ganzen Hals wieder nach oben, bis zu den Stimmbändern.

ZEIT: Das erscheint umständlich.

Dawkins: Kein Ingenieur würde das so bauen! Schlechtes Design, Materialverschwendung und ein Risiko. Schließlich kann der Nerv auf der langen Strecke verletzt werden. Doch dieser Umweg ist ein Überbleibsel aus der Zeit unserer fischähnlichen Vorfahren. Als die Fische das Wasser verließen und sich zu Reptilien und Säugetieren entwickelten – Fische haben keinen Hals –, begann sich der Hals zu verlängern, was viele Vorteile brachte. Der Nerv lag jedoch bereits hinter der Arterie, und mit jeder kleinen Verlängerung des Halses wurde auch der Weg des Nervs ein Stück länger.

ZEIT: Aber wieso hat die Evolution den Nerv nicht einfach verlegt?

Dawkins: Weil das eine komplette Programmänderung in der Embryonalentwicklung bedeutet hätte. Die Lage der Nerven und Blutgefäße wird im Embryo sehr früh festgelegt und ist mit vielen anderen Strukturen und Entwicklungsschritten verknüpft. Vermutlich hätten Tiere, bei denen durch eine Mutation der Nerv woanders lag, aus anderen Gründen nicht überlebt. Die Kosten jeder kleinen Verlängerung des Nervs, der mit den Hälsen über Generationen hinweg mitwuchs, waren also gering im Vergleich zu den massiven embryologischen Veränderungen, die nötig gewesen wären, um den Nerv auf die andere Seite zu bringen.