"Krieg um Wasser ist ein Mythos"
DIE ZEIT: Herr Bernauer, im Konflikt zwischen Indien und Pakistan droht die indische Regierung, dem Nachbarland das Wasser abzudrehen: "Wir werden sicherstellen, dass nicht ein einziger Tropfen Induswasser Pakistan erreicht", verkündete der Wasserminister. Wie realistisch ist das?
Thomas Bernauer: Für Pakistan wäre das eine Katastrophe. Das Land ist extrem abhängig vom Indus und seinen Zuflüssen, vor allem die Landwirtschaft. Auch ein erheblicher Teil der Stromproduktion kommt aus Wasserkraftwerken im Indusbecken. Aber Indien kann seine Drohung kaum wahr machen.
ZEIT: Warum nicht?
Bernauer: Aus technischen Gründen. Es bräuchte gewaltige Staudämme dafür. Die gibt es nicht. Ein Wasservertrag hat vor Jahrzehnten festgelegt, dass Indien nur begrenzte Staukapazitäten an den ihm zugeteilten Flüssen im Indusbecken errichten darf.
ZEIT: Dieser Vertrag von 1960 regelt die Verteilung der Wasserressourcen des Indus und seiner Zuflüsse. Die indische Regierung droht jetzt aber auch, diesen Vertrag aufzukündigen.
Bernauer: Selbst wenn es zum Bruch käme: Neue Dämme zu bauen, dauert viele Jahre und kostet sehr viel Geld. Vermutlich wird Indien die Zusammenarbeit im Rahmen des Wasservertrags für einige Zeit aussetzen. Dass sie ganz aussteigen, halte ich für unwahrscheinlich.
ZEIT: Warum?
Bernauer: Das Abkommen hat drei Kriege zwischen den beiden Ländern überstanden. Man muss sich auch das größere Bild anschauen: Indien ist nicht nur in der Position eines sogenannten Oberliegers, sondern befindet sich am Indus und anderen Flüssen auch flussabwärts: Der Indus kommt aus Tibet. Und Pakistan zählt China zu seinen Verbündeten. Auch der Brahmaputra, für Indien eine wichtige Wasserquelle, entspringt in China. Wenn Indien jetzt die Haltung vertritt, wir fühlen uns nicht mehr an Verträge gebunden und klären Wasserfragen mit machtpolitischen Instrumenten – was sollte China daran hindern, genauso zu handeln? Trotz der martialischen Worte müsste die indische Regierung es sich deshalb zweimal überlegen, Pakistan das Wasser abzustellen.

CHINA
INDIEN
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Kaschmir
AFGHA-
NISTAN
Kabul
Shyok
Indus
Islamabad
Islamabad
Jhelam
Chanab
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PAKISTAN
Ravi
INDIEN
100 km
Satluj
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©ZEIT-Grafik

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ZEIT: Sollte Indien die Drohung umsetzen, würde das einer Kriegshandlung gleichkommen, hieß es von pakistanischer Seite. Es wäre nicht das erste Mal, dass Wasser als Waffe eingesetzt wird, oder?
Bernauer: Tatsächlich gibt es nur wenige Fälle in der jüngeren Geschichte. Etwa die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine durch russische Streitkräfte im Sommer 2023. Und Israel hat im Gazakrieg einige Tunnel der Hamas mit Meerwasser geflutet und auch die Trinkwasserzufuhr zeitweilig unterbrochen. Aber das sind eher Ausnahmen.
ZEIT: "Der nächste Krieg im Nahen Osten wird um Wasser geführt werden." Dieser Satz des ehemaligen UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali löste in den 1980er-Jahren eine Welle von populärwissenschaftlichen Publikationen und Medienberichten aus, die weltweit Kriege um die Ressource Wasser prophezeiten. Auch heute ist die These wieder häufig zu hören.
Bernauer: Eine Behauptung wird aber nicht wahrer, wenn man sie tausendmal wiederholt oder zitiert. Krieg um Wasser ist ein Mythos. In einer Forschungsgruppe haben wir untersucht, wie groß das Ausmaß von Konflikten um Wasserressourcen weltweit tatsächlich ist.
ZEIT: Und?
Bernauer: Konflikte um Wasser gibt es viele. Aber internationale Kriege um diese Ressource waren nicht feststellbar. Wir sind zurückgegangen bis ins Jahr 1940, haben Statistiken und Medienberichte weltweit ausgewertet. Relativ häufig waren verbale Streitigkeiten. Und auf innerstaatlicher Ebene kommt es ab und zu zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, aber lokal sehr begrenzt. Meist in sehr armen Ländern, wenn etwa sesshafte Bauern und Nomaden um den Zugang zu Wasser streiten.
ZEIT: Wie erklären Sie sich das Ausbleiben von Kriegen?
Bernauer: Da kommt eine machtpolitische Komponente ins Spiel. Schauen wir uns Euphrat und Tigris an: Da ist die Türkei Hegemon, sie liegt flussaufwärts von Syrien und dem Irak und kann – vereinfacht gesagt – machen, was sie will. Schlicht weil Syrien und der Irak wirtschaftlich wie politisch am Boden sind. Es gibt also ein Machtgefüge, das den Ausbruch eines militärischen Konflikts verhindert.
ZEIT: Angenommen, es bestünde ein politisches und militärisches Gleichgewicht zwischen Flussanrainern – dann würde es krachen?