Verloren in einer fremden Sprache: Der Junge, der plötzlich nur noch Englisch konnte
Es beginnt auf einem Fußballplatz. Ein 17-jähriger Mann aus den Niederlanden muss wegen eines dort erlittenen Knorpelschadens in einer Klinik in Maastricht am Knie operiert werden. Als er aus der Narkose aufwacht, hat er sowohl seine Muttersprache als auch seine Mutter, seinen Vater und sein Vaterland vergessen. Er kann sich zwar fast normal unterhalten, allerdings nur auf Englisch. Und er ist überzeugt, im US-Bundesstaat Utah zu sein.
Über diesen Fall berichten jetzt niederländische Mediziner und Psychologen im „Journal of Medical Case Reports“.
Leichte bis mittlere kurzfristige Verwirrung, das sogenannte „Aufwach-Delirium“ (engl.: agitated emergence oder emergence delirium) nach einer Narkose, kommt häufiger vor.
Fremdsprachen-Akzent-Syndrom und „Zungengebet“
Ob der hier beschriebene Fall eine Beziehung zum sogenannten „Fremdsprachen-Akzent-Syndrom“ hat, ist unklar. Betroffene sprechen hier ihre Muttersprache mit ausländisch anmutendem Akzent. Untersuchte Fälle zeigen fast durchweg klare Befunde im Gehirn, etwa Folgen eines Schlaganfalls oder andere Schädigungen.
Wahrscheinlich keinen Bezug gibt es zum „Zungengebet“. Hier handelt es sich um eine spirituelle Praxis Gläubiger aus verschiedenen Religionen. Sie geht mit unverständlichen, keiner existierenden Sprache zuzuordnenden Lautäußerungen einher.
Bei dem Jungen änderte sich aber auch Stunden später kaum etwas.
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Er erkannte weiterhin seine Eltern nicht, verstand kein Niederländisch, kommunizierte aber fast problemlos auf Englisch.
Ein Fachteam aus Psychologie und Psychiatrie wurde deshalb hinzugezogen. Der Junge wurde eingehend untersucht, befragt, seine Krankengeschichte analysiert. Die Eltern fragte man nach möglichen Auffälligkeiten bei seinen Vorfahren.
Englisch mit Akzent
Es zeigte sich, dass er keine bedeutsamen physischen oder psychiatrischen Vorerkrankungen hatte. Die Familiengeschichte ergab, dass es bei Groß- und Urgroßeltern möglicherweise Fälle von Depression gegeben hatte, was die Experten aber als nicht relevant einstuften.
Sie hätten einem „entspannten, gut gepflegten“ jungen Mann „in fröhlicher Stimmung“ gegenübergesessen, schreiben sie. Er habe Englisch „mit niederländischem Akzent“ gesprochen. Nach Angaben der Eltern war er mit dieser Fremdsprache nur aus der Schule vertraut und sprach sie im Alltag nicht.

© Getty Images/iStockphoto
Die eingehende psychologische Evaluierung habe etwa 18 Stunden nach der Operation stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt habe der Patient begonnen, wieder etwas Niederländisch zu verstehen und zu sprechen, aber „nur mit Schwierigkeiten“, heißt es in dem Fallbericht. Man habe keinerlei Anzeichen für eine psychiatrische Störung finden können.
„Etwa 24 Stunden nach der Operation, als einige seiner Freunde zu Besuch kamen, war er in der Lage, spontan wieder Niederländisch zu verstehen und zu sprechen“, schreibt das Team um den Psychiater Husam Salamah weiter. Er erkannte diese Personen sowie seine Eltern nun auch. „Interessanterweise“ habe der Junge jetzt angegeben, „dass er sich bewusst war, dass er in der unmittelbaren postoperativen Phase nur Englisch gesprochen und verstanden hatte“. Er habe sich auch daran „erinnert, dass er seine Eltern nicht erkennen konnte und geglaubt hatte, er sei in den USA“.
In Studien wurden bei nicht erwachsenen Tieren, die einer Narkose ausgesetzt waren, eine durch Zelltod bedingte Neurodegeneration und langfristige kognitive Defizite festgestellt.
Husam Salamah, Kinderpsychiater, und seine Kollegen in ihrem Fachartikel
Der Zustand des Jungen normalisierte sich danach schnell komplett. Deshalb wurden – aus Forschungssicht bedauerlicherweise – keine weiteren Untersuchungen wie Hirnscans oder Elektroenzephalogramme durchgeführt.
Ein kognitiver Test etwa ein Jahr später zeigte keine besonderen Auffälligkeiten. Ob der Junge die Symptome möglicherweise nur vorgespielt haben könnte, wird in der Facharbeit nicht diskutiert.
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Nach Ansicht von Salamah handelte es sich um einen „extrem seltenen Fall“ des „Fremdsprachensyndroms“ (Foreign Language Syndrome, FLS). Bisher seien nur acht solche in der Fachliteratur beschrieben, keiner davon bei einem Kind oder Heranwachsenden.
Aufpassen im Aufwachraum
Bekannt ist, dass Narkosemittel wie die bei dieser Operation verwendeten – unter anderem das sehr verbreitete, intravenös injizierte Propofol – neurologische Effekte bis hin zum Absterben von Hirnzellen haben könnten. Das haben unter anderem Tierversuche ergeben.
Am Ende ihres Artikels zeigen sich die Fachleute einigermaßen ratlos: Sie könnten weder die Ursache noch die Gehirnmechanismen für die Symptome des Jungen benennen. Zudem sei nicht einmal sicher, ob es sich bei FLS um ein eigenständiges Syndrom oder nur eine Symptomatik des Aufwach-Deliriums handele. Wichtig sei deshalb mehr Forschung, aber vor allem mehr Aufmerksamkeit im Aufwachraum – denn möglicherweise gebe es viel mehr solcher oder ähnlicher Fälle, die einfach übersehen würden.