„Ich versuche, das Unfassbare zu berühren“

Frau Unruh, Sie sind in einem Dorf in Kirgisistan geboren und 1988 mit neun Jahren nach Deutschland gekommen. Erinnern Sie sich an den Moment, als klar wurde, dass Sie ausreisen dürfen?
Ja, das weiß ich noch sehr genau. Es war der Abend vor der Abreise, und meine Eltern sagten mir plötzlich: „Heute Nacht fahren wir nach Deutschland – für immer.“ Ich konnte es kaum glauben. Meine Familie hatte jahrelang viele Ausreiseanträge gestellt, die immer wieder abgelehnt worden waren. Plötzlich mussten wir alles stehen und liegen lassen. Und wir waren erst nach der Landung in Deutschland sicher, dass es wirklich geklappt hatte.
Wie war es für Sie, in Deutschland anzukommen?
Es war ein Bruch zu unserem ländlich geprägten Leben im heutigen Kirgisistan. Ich bin umgeben von schneebedeckten Bergen mit vielen Tieren aufgewachsen und habe auch ein völlig anderes Schulsystem erlebt. Ich fühlte mich im wahrsten Sinne des Wortes „sprachlos“. Außerdem habe ich meine Cousinen und Freundinnen vermisst. Es brauchte Zeit, bis ich mich an unser neues Leben in Deutschland gewöhnte, mich sprachlich sicher fühlte und sich neue Freundschaften bildeten.

Ihre Familie ist russlanddeutsch und mennonitisch geprägt. Können Sie das kurz erklären?
Die Mennoniten gehören zu einer evangelischen Freikirche, die auf Täuferbewegungen der Reformationszeit in der Schweiz und den Niederlanden zurückgeht. Meine Vorfahren kamen zum größten Teil aus Westpreußen in der Nähe von Danzig. Im 18. Jahrhundert kam es zu starken Einschränkungen vieler Bürgerrechte auch für die Mennoniten, so dass sie in das zaristische Russland auswanderten. Hier konnten sie über Generationen ihre eigene Sprache – ein niederdeutsches Platt – bewahren. In der späteren Sowjetunion war Religion nicht erwünscht, deshalb stellten meine Angehörigen immer wieder Ausreiseanträge oder flohen, wenn es möglich war. So ist meine Verwandtschaft heute über viele Länder verstreut, auch wenn die meisten in Deutschland leben. Ich selbst bezeichne mich weder als Russlanddeutsche noch als Mennonitin, sondern als Nachfahrin dieser ethno-religiösen Minderheit.

Wann kam die Fotografie in Ihr Leben?
Schon in Kirgisistan. Mein Vater und eine meiner Tanten haben viel fotografiert, sie hielten unser Familienleben fest. Für mich hatte die Fotografie schon immer etwas Magisches und Faszinierendes. Später, während meines Lehramtstudiums in Bielefeld, habe ich angefangen, ernsthaft zu fotografieren – anfangs eher nebenbei. Aber die Kamera war immer an meiner Seite, auch als ich ein Jahr in Costa Rica und fünf Jahre in Rom lebte und arbeitete. Dort hatte ich auch meine erste Ausstellung. Heute lebe ich mit meinem Mann und zwei Kindern im Münsterland und arbeite als Fotografin und Lehrerin – die Fotografie ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil meines Lebens.
Sie haben die Welt bereist – und irgendwann beschlossen, nach Kirgisistan zurückzukehren. Warum?
Nach 20 Jahren war mir plötzlich klar: Ich kenne so viele Länder, aber mein Geburtsland eigentlich gar nicht richtig. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Also bin ich zurückgereist. Und sofort war dieses Gefühl da: die Farben, das Licht, die Gerüche, die Mentalität der Menschen – es war, als würde etwas in mir aufatmen. Obwohl die meisten meiner Verwandten nicht mehr dort leben, fühlte ich mich sofort tief mit dem Land und der Landschaft verbunden; seitdem kehre ich immer wieder zurück.
Ihr Bildband „Where The Poplars Grow“, der unter anderem mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber ausgezeichnet wurde, erzählt von dieser Rückkehr. Was bedeutet der Titel für Sie?
Als ich das erste Mal nach 20 Jahren wieder Kirgisistan und auch das Dorf meiner Kindheit bereiste, fielen mir neben der atemberaubenden Berglandschaft insbesondere die unzähligen Pappeln auf, die in ganz Eurasien verbreitet sind. Für mich persönlich sind sie ein Symbol meiner Kindheit. In den Dörfern in Kirgistan säumen sie die Straßen, sie rauschen im Wind – und sie sind für mich wie Wächter über eine Zeit, die nie vergeht. Im Bildband geht es um die Spuren meiner Familie, um das Leben der deutschen Minderheit in zwei kleinen Dörfern dort, um Abschiede und Neuanfänge. Es ist kein Blick von außen, sondern der Versuch zu verstehen, wie die Suche nach Religionsfreiheit, Flucht und Migration über Generationen hinweg eine kleine Minderheit bis ins heutige Kirgisistan führten. Meine Familiengeschichte steht exemplarisch für unzählige ähnliche Familiengeschichten, die ich vor dem Hintergrund der damaligen globalen politischen Situation zu erzählen versuche.

Ihre Bilder sind in Ausstellungen zu sehen und erscheinen in Magazinen wie Geo, Stern oder National Geographic. Was treibt Sie an?
Für mich ist Fotografie mehr als nur ein Beruf. Mit meinen Bildern versuche ich, das Unfassbare zu berühren – Erinnerung, Identität, Verlust, aber auch Schönheit. Es geht mir darum, sichtbar zu machen, was bleibt.
Und woran arbeiten Sie gerade?
Ich plane einen neuen Bildband, diesmal mit Fotografien aus Deutschland. Er wird ein neues Kapitel behandeln, aber im Kern geht es auch hier um Lebenswege, um das, was uns prägt und zusammenhält.