Krieg darf nicht von Krieg ablenken
Den Erzfeind Iran hart getroffen. Das Atomprogramm womöglich stark beschädigt. Eine erhebliche Gefahr gebannt, zumindest deutlich verkleinert. Israels Angriff auf den Iran ist ein kriegshandwerklich meisterhafter Akt. Womöglich sogar ein Befreiungsschlag aus einer permanenten Bedrohung. So kann man das sehen.
Hunderte tote Zivilisten im Iran. Auch jene, die mit dem Mullah-Regime nichts gemein haben, sind getroffen. Irans Raketen, die bislang mindestens 24 Menschen in Israel töteten. Die Gefahr, dass sich dieser nächste Krieg im Nahen Osten ausweiten wird. Das ist die Kehrseite des Angriffs.
Schon wird die Sinnhaftigkeit des Vorgehens diskutiert. Fragen des Völkerrechts. Ob Benjamin Netanjahu nun die Stärke des Iran fürchtete oder seine Schwäche ausnutzte. Für endgültige Antworten ist es viel zu früh. Klar ist nur: Es sterben Menschen, sie leiden, werden bedroht, vertrieben und verletzt. In Israel und im Iran.
In Gaza geht das seit fast zwei Jahren so. Das darf nicht vergessen werden.
Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel an, tötete, folterte, vergewaltigte und verschleppte Frauen und Männer, Alte und Kinder. Daraufhin griff Israel Gaza an. Das oberste Ziel zunächst: die Geiseln aus den Fängen der Hamas zu befreien. Natürlich ist es die Pflicht eines Staates, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen und, wenn nötig, zu befreien.
Je länger der Krieg jedoch dauerte, desto mehr verlor Israel das Maß. Die Geiseln sind nicht mehr die oberste Priorität, selbst in der offiziellen Sprachregelung nicht. Vernichtet werden sollte die Hamas, faktisch werden dabei weite Teile des Gazastreifens zerstört. 55.000 Menschen sind laut palästinensischen Angaben tot. Zwei Millionen sind bedroht von Hunger, Obdachlosigkeit, Krankheiten und Beschuss.
Der nächste Krieg, alle Augen geradeaus
Lange Zeit kam die Regierung von Benjamin Netanjahu damit fast unbehelligt durch. Auch weil die Hamas mit ihrem terroristischen Angriff eine harte Gegenwehr legitimierte. Erst in den vergangenen Wochen wurde die Kritik an der Härte des Vorgehens lauter. Auch politische Verbündete Israels wie Frankreich und Großbritannien wagten sich vor, wenn auch zögerlich; auch Friedrich Merz äußerte sich kritisch.
Jetzt aber ist Israel in einem Krieg mit dem Iran. Und Gaza droht in Vergessenheit zu geraten. Allein am Sonntag sollen dort mindestens 41 Menschen getötet worden sein. Einige von ihnen sollen erschossen worden sein, während sie sich einer Ausgabestelle für Hilfsgüter näherten. Andere wurden bei Luftangriffen in ihren Häusern getroffen. Täglich kann man von Israel aus die Rauchschwaden über Gaza aufsteigen sehen, die Gefechte in der Nähe des Grenzzauns hören. Hilfsorganisationen warnen, dass Israel wieder heftiger im Gazastreifen vorgeht, seit es den Krieg gegen den Iran begonnen hat.
Und auch im Westjordanland nimmt die Gewalt zu. Israel hat mit Beginn des Angriffs auf den Iran ganze Dörfer abgeriegelt, Palästinenserinnen und Palästinenser faktisch eingesperrt. Städte sind im Lockdown, ob Betlehem, Nablus oder Jericho. An den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen, in den Supermärkten kauften die Menschen Vorräte. Sie kennen diese Blockaden schon, und sie wissen nicht, wie lange es diesmal dauern wird. Gleichzeitig greifen radikale Siedler immer häufiger Palästinenser an. Vertreiben sie aus ihren Häusern, schüchtern sie ein. Sie agieren häufig in einem faktisch rechtsfreien Raum. Auch diese israelische Ungerechtigkeit wird jetzt, im Schatten des Irankriegs, zur Nebensache.
Nur noch ein Nebenkriegsschauplatz
Die Feindschaft zwischen Israel und dem Iran reicht lange zurück, das Regime in Teheran ist eine existenzielle Bedrohung für Israel. Das ist die übergeordnete Perspektive. Für Netanjahu selbst kommt dieser Krieg zu einem günstigen Zeitpunkt. Innen- wie außenpolitisch stand er zuletzt unter gewaltigem Druck. Netanjahu hat schon viele Gelegenheiten genutzt, um seine Macht zu sichern, sich vor Prozessen zu retten und die eigenen Vorteile zu schützen. Mit Blick auf Gaza hat er eine neue Formulierung gefunden: Im Angesicht des Kriegs mit dem Iran sei Gaza nun militärisch secondary. Der gefährlichste Ort der Welt soll jetzt ein Nebenkriegsschauplatz sein.
Aufmerksam zu bleiben, wachsam und mahnend. Kritisch auf das Sterben in Gaza zu schauen, auf die Unterdrückung der Palästinenser im Westjordanland. Das ist die Pflicht auch der engen Partner Israels. Es ist die Herausforderung und Notwendigkeit, nicht trotz, sondern wegen der Eskalation im Iran.