Überstunden und gestrichene Feiertage helfen nicht weiter
Das Gerücht, wir Deutschen seien faul geworden, hält sich hartnäckig – auch wenn das kaum jemand offen ausspricht. Besonders junge Menschen gelten als nicht mehr leistungsbereit. Diese Behauptungen widersprechen nicht nur den Fakten, sondern zeugen auch von einer erstaunlichen Ignoranz gegenüber dem tatsächlichen Potenzial unseres Arbeitsmarkts. Geforderte Maßnahmen wie die geplante Steuerbefreiung von Überstunden oder die Abschaffung eines Feiertags sind fehlgeleitet, denn sie lösen nicht eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre.
Zuallererst: Noch nie wurde in Deutschland so viel gearbeitet wie in den letzten Jahren. Mit über 63 Milliarden geleisteten Arbeitsstunden im Jahr wurde zuletzt ein Rekord erreicht. Das liegt vor allem an der Zuwanderung und einer steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen. Mit über 46 Millionen Erwerbstätigen war die Beschäftigung noch nie höher. Die Deutschen sind also nicht faul. Gleichzeitig haben die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz deutlich zugenommen.
Angesichts des bereits großen und künftig weiter zunehmenden Arbeitskräftemangels ist es dennoch richtig, nach Lösungen zu suchen und für eine Erhöhung der Arbeitsstunden zu sorgen. Doch der Vorschlag, einen Feiertag abzuschaffen, wird wenig helfen. Ebenso ineffektiv und sogar kontraproduktiv ist die steuerliche Begünstigung von Überstunden für Beschäftigte in Vollzeit. Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass solche Maßnahmen kaum zu mehr Arbeit führen, sondern vor allem Mitnahmeeffekte erzeugen und eine Umverteilung zulasten der Steuerzahler bewirken.
Frauen, Zuwanderung und Bildung sind die Erfolgsfaktoren
Der
Schlüssel zur Erhöhung der Arbeitsstunden liegt ganz woanders: bei der
Gleichstellung von Frauen und Männern, bei einer gezielten Zuwanderung und der besseren
Integration der über drei Millionen Geflüchteten, bei mehr Investitionen ins
Bildungssystem sowie bei Reformen in den Unternehmen selbst.
Ein großes, ungenutztes Potenzial liegt in der Erwerbstätigkeit von Frauen. Besonders in Westdeutschland hat sie in den letzten Jahren deutlich zugenommen und wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg der 2010er-Jahre beigetragen. Doch rund die Hälfte der erwerbstätigen Frauen arbeitet nicht Vollzeit – Deutschland hat eine der höchsten Teilzeitquoten von Frauen weltweit. Das liegt nicht am mangelnden Willen, mehr zu arbeiten. Viele Frauen in Teilzeit geben an, gerne länger arbeiten zu wollen. Doch vor allem die Wirtschaft stellt ihnen zahlreiche Hürden in den Weg. Frauen werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt stärker diskriminiert als in vielen anderen Ländern: Der Gender Pay Gap gehört zu den höchsten in Europa, Karrierechancen sind oft schlechter, und sie sind überdurchschnittlich häufig in belastenden, systemrelevanten Berufen tätig.
Das Ehegattensplitting führt dazu, dass Frauen nach der Familiengründung beim Wiedereinstieg oft fast die Hälfte ihres Einkommens durch Steuern und Abgaben verlieren. Gleichzeitig ist die Betreuungssituation in Kitas und Schulen mangelhaft – Eltern, vor allem Mütter, tragen eine ungewöhnlich hohe Last. Hinzu kommt die Ausweitung von Minijobs, die bis 556 Euro monatlich steuer- und abgabenfrei sind. Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in solchen Jobs – zu häufig sind dies keine Studierenden oder Rentner, sondern Frauen im besten Erwerbsalter.