Wissenschaftler, mischt euch endlich ein!
Ali Aslan Gümüşay hat den Lehrstuhl für Innovation, Entrepreneurship & Nachhaltigkeit an der LMU München inne.
Weltweit wächst der Populismus, die Demokratie gerät vielerorts unter Druck. Dabei bleibt die Wissenschaft erstaunlich leise, während wir sehen, wie ihr global von populistischen Bewegungen der Teppich unter den Füßen weggezogen wird, wie die Forschungsfreiheit angegriffen und eingeschränkt wird. Wissenschaft hält sich oft zurück, aus Tradition oder aus der Sorge, instrumentalisiert zu werden. Doch genau jetzt braucht es ihre Stimme – zur besseren Analyse sowie zur Gestaltung der Zukunft.
Populisten setzen auf einfache Antworten: Die Schuld wird auf "die Minderheiten" oder "den Staat" geschoben. "Die demokratische Mitte wie auch die Wissenschaft müssen hier einen anderen Weg gehen." Nicht durch Vereinfachung, sondern durch klare und zugängliche Vermittlung. In der Migrationsdebatte zeigen Studien beispielsweise immer wieder, dass gezielte Zuwanderung Arbeitsmärkte stärkt statt schwächt. Doch solche Erkenntnisse gehen im Lärm plakativer Schuldzuweisungen unter. Es braucht eine Komplexitätsbefähigung, die es Menschen ermöglicht, differenzierte Lösungen zu verstehen und populistische Parolen zu entlarven.
In einer Trumpschen Welt der Postfaktizität, in der wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur ignoriert, sondern aktiv angezweifelt oder verdreht werden, reicht es nicht mehr aus, Fakten zu analysieren. Wir als Wissenschaft müssen selbst prä-faktisch handeln, indem wir nicht nur bestehende Herausforderungen analysieren, sondern konkrete Pfade für wünschenswerte Entwicklungen aufzeigen. Prä-faktisches Handeln heißt, wir müssen mehr Imagination wagen und über bestehende Probleme hinausdenken, lebenswerte Zukünfte entwerfen und konkrete Wege dorthin aufzeigen. Die UN-Nachhaltigkeitsziele können hier als Zielvariablen dienen: Sie setzen Maßstäbe für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung. Die planetaren Grenzen sind Leitplanken und zeigen dabei, was machbar ist – etwa, wie wir Ressourcen nutzen können, ohne unser Ökosystem irreversibel zu schädigen.
Die Wissenschaft muss für eine solche Komplexitäts- und Imaginationsbefähigung ihr Mandat weiten – nicht ersetzen. Erstens braucht es mehr interdisziplinäre Forschung mit sozialpolitischem Anwendungsbezug – nicht zwingend als angewandte Wissenschaft, aber als Forschung mit Gestaltungsmöglichkeiten. Die Behauptung, dass wir kein Erkenntnisproblem hätten, ist fehlerhaft – etwa wenn es darum geht, wie Klimapolitik sozial gerecht gestaltet oder gesellschaftliche Polarisierung verhindert werden kann. Zweitens müssen wir besser verstehen, warum wissenschaftliche Erkenntnisse oft nicht in der Praxis ankommen. Hier wiederum liegt ein Umsetzungserkenntnisproblem vor. Und drittens muss Wissenschaft intensiver mit Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, um ihre Wirkung besser zu entfalten.
Dafür gibt es bereits erprobte, innovative Methoden, die Forschung und Praxis enger verknüpfen. Sogenannte Forschungssprints bringen Forschende mit Fachleuten aus der Praxis zusammen, um innerhalb weniger Wochen konkrete Lösungen zu erarbeiten. "Imagination-Dinners" versammeln Menschen aus verschiedenen Bereichen, um Szenarien für wünschenswerte Zukünfte zu entwerfen. Solche Formate zeigen, was Wissenschaft auch sein kann: nicht nur eine Produzentin von Erkenntnis, sondern eine Plattform für Austausch und Gestaltung, die Erkenntnisse co-kreativ manifestiert.
All dies ersetzt nicht bestehende Forschung – es komplementiert sie und verstärkt ihre Wirkung. Und sichert somit das Fundament, auch in Zukunft forschen zu können – und zu dürfen. Getreu dem Diktum des Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde, nach dem der "freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen" lebt, die er "selbst nicht garantieren kann", lebt auch die Wissenschaft von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren, aber aktiv mitgestalten kann – und muss.